ohrenhoch präsentiert am Sonntag
15. und 22. September 2013, 14 - 21 Uhr:
At the Edge of Wilderness (2000)
Eine Soundscape-Photo-Installation über Geisterstädte in British Columbia
Komponistin: Hildegard Westerkamp
Photographin: Florence Debeugny
Wenn die Rohstoffindustrie in die Landschaften von British Columbia einzieht, werden Industriegelände und Firmen-Städte in die Wildnis hineingeschnitten. Der Rand zwischen der Wildnis und einem solchen neuen Ort ist traditionell messerscharf wie die Grenze zwischen Leben und Tod durch Erdolchen. Gift wird in die Umwelt abgegeben durch das gewaltsame Eindringen der Industrie. Sobald die Rohstoffe erschöpft sind, zieht die Firma weg und hinterlässt ihre riesigen, dreckigen Fussabdrücke, hinterlässt offene Kluften in Bergen, und verlässt sich darauf, dass natürliche Prozesse die Schrotthaufen, den Abraum, den Abfall absorbieren. Natürliche Rhythmen und Bewegungen weichen irgendwann die Ränder auf, indem sie ein stillgelegtes Industriegelände in mysteriöse rostige Gebilde verwandeln und eingestürzte hölzerne Strukturen von Moos, Unkraut, Gebüsch und Bäumen überwachsen werden. Ein ehemals lärmiger, geschäftiger Ort wird zu einer stillen Geisterstadt voll von Erinnerungen. Eine alte Industrie wird Artefakt und liegt dort wie ein zahnloses Monster der Vergangenheit.
Durch Bilder und Sounds, die in verschiedenen Geisterstädten der kanadischen Provinz British Columbia im Frühling und Sommer 2000 erfasst wurden, erforscht 'At the Edge of Wilderness' den Moment der Begegnung zwischen dem/der heutigen BesucherIn und den stillgelegten Industriegeländen: einen seltsamen Moment von Begeisterung und Zauber, Entdeckung und Abenteuer; einen Moment von Fragen und Geschichten über die menschlichen industriellen Aktivitäten der Vergangenheit und Gegenwart; einen Moment des Empfindens von Geistern und Gespenstern, die noch immer zwischen den skelettartigen Überresten schweben, während die Natur allmählich ihren Platz zurückfordert. Es ist als ob BesucherIn und Ort zusammen einen tiefen Atemzug nehmen während dieser Begegnung, von Verletzungen genesend, und den Rand betrachtend, wo Schrott und Artefakt, Zerstörung und neues Wachsen, Lärm und Stille sich treffen; wo Wahrnehmungen einer beschämenden Vergangenheit, die aufräumbedürftig ist, mit Gefühlen von Stolz auf ein erhaltenswertes Erbe kollidieren.
Über die Sounds
Anfangs, als wir erstmals auf den Geisterstadt-Geländen ankamen, lagen die vielen rostigen Objekte und Strukturen still herum und erzählten uns Geschichten ihres Arbeitslebens, ihrer Funktion. Aber als wir uns durch die Gelände bewegten und auf ihnen und durch sie schritten, auf ihnen "spielten", mit verschiedenen Objekten auf sie klopften und lauschten, produzierten sie die faszinierendsten Resonanzen. Ob die Sounds von einer alten Dampfmaschine kamen oder einem verstimmten Klavier mit kaputten Saiten, sie wurden die Musikinstrumente für 'At the Edge of Wilderness'. Das Erforschen ihrer akustischen / musikalischen Eigenschaften in ihrem verfallenen Zustand liess sie auf überraschende Weise wieder lebendig werden. In einigen Fällen, je nachdem, wie sie "gespielt" wurden, verursachten sie Sounds und Rhythmen, nicht unähnlich denen von alten Maschinen aus der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Sie sind die Sounds, die uns aus der Gegenwart der existierenden Geisterstädte in die imaginierte Vergangenheit dieser Orte tragen, und sie stellen den besonderen Rand dar, der im ganzen nordamerikanischen Kontinent zwischen der Natur und dieser Form von Zivilisation erschaffen wurde. Die Industriestrukturen in Musikinstrumente umzuwandeln mag ein Weg sein, den Schaden auszutreiben, der auf diesem Kontinent und überall auf der Welt angerichtet wurde und in vielen Fällen noch immer angerichtet wird - ein Weg, um Frieden zu schliessen oder eine Balance zu finden zwischen den destruktiven und den kreativen Kräften, die bei abenteuerlichen Explorationen dazu tendieren, Seite an Seite zu arbeiten.
Die meisten Sounds für das Stück – die natürlichen Sounds, das Sound-machen auf den rostigen Strukturen, Sounds von Autos und Zügen oder von unseren Schritten und Sprechstimmen – wurden in den Geisterstadt-Geländen selber aufgenommen. Die Aufnahmen von Dampflokomotiven und von alten Maschinen wie dem "Buffalo Ironworker" kommen aus den Umwelt-Soundarchiven des 'World Soundscape Project' an der Simon Fraser University. HW
Anmerkungen der Photographin
Als ich ich einige der Geisterstädte und stillgelegten Minen von British Columbia besuchte, schien es, als ob die Leute diese Orte in Eile verlassen hätten, wie sie würden, wenn sich eine Naturkatastrophe wie zum Beispiel ein Vulkanausbruch ereignet. Diese Relikte schildern Verzweiflung und Trostlosigkeit und enthüllen das Innerste von Menschen und die Erlebnisse, die sie durchmachten. Sie bringen uns ans Zentrum heran, zu der wesentlichen Sache im Leben: Überleben, was Akzeptanz und Demut verlangt.
Ich suche nach Zeichen und Spuren unserer Vergangenheit und Geschichte. Ich stelle mir vor, dass Menschen voller Hoffnung und Ambition sich grösste Mühe gaben, hier die Erfüllung ihrer Träume zu finden. Oder sie wollten einfach ihren Lebensunterhalt bestreiten. Wenn es nicht funktionierte, infolge Preisrückganges auf Erz (z.B. Kupfer, Silber, Zink oder Gold) oder wegen Bränden oder Hochwasser, oder einfach weil es die Eisenbahn nicht zu diesen abgelegenen Orten schaffte, gingen sie weg, um ihr Glück anderswo zu versuchen.
Ich mag Verfall, Aufgabe und Zerstörung. Es gibt einen Eindruck von Verzweiflung, Not, Desillusion und Traurigkeit. Menschen liessen die Strukturen, die sie aufgebaut hatten und das Material, das sie eingebracht hatten, zurück. Anscheinend hatten sie keine Bedenken, dass das alles nach ihrer Abreise wie Abfall herumliegen würde, keine Bedenken, dass es Jahre dauern würde, bis diese Spuren verschwinden. Die Holzkonstruktionen lösen sich relativ schnell zurück in die Natur auf, aber nicht die vielen Metallobjekte und Zementkonstruktionen. Die Vegetation mag um sie herum wachsen und sie vor unserem Blick zu decken, aber sie werden dort weiterhin während Jahren liegen, von der Natur nicht absorbiert. Und paradoxerweise gefällt es uns: Diese Ruinen fordern unsere Imagination heraus und sprechen unseren Sinn für Ästhetik an. Wir wollen diese stillgelegten Gelände immer noch besuchen.
Ich bin sehr von der chaotischen Anordnung dieser deformierten Gebilde angezogen und von der Kombination von Farben, Texturen, Formen und Material. Wenn ich sie anschaue, verspüre ich das Bedürfnis, die detaillierten Bilder, die mein inneres Auge wahrnimmt, auf photographischen Film zu übertragen. Jedesmal, wenn ich durch diese stillgelegten Gelände gehe, fühlt es sich an, als ob ich durch ein unberührtes Museum ohne Organisation wandern würde. FD
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Sponsoren der Präsentation 'At the Edge of Wilderness' im 'ohrenhoch':?
serve-u TECHNICAL SUPPORT, Hacksound Veranstaltungstechnik
Hildegard Westerkamp
Die deutsch-kanadische Komponistin Hildegard Westerkamp, (1946 in Osnabrück geboren, 1968 nach Kanada ausgewandert) lehrte akustische Kommunikation an der Simon Fraser Universität in Vancouver, arbeitete als Radiomacherin und sitzt im Beirat des World Forum for Acoustic Ecology. Seit 2000 gibt sie Soundscape - The Journal of Acoustic Ecology heraus. Im Zuge ihrer Arbeit, wie z.B. im Auftrag des Goethe-Institutes, reist sie weit, um Konzerte zu geben, Vorlesungen und Soundscape Workshops abzuhalten. Ihre Kompositionen befassen sich weitgehend mit Aspekten der akustischen Umwelt. Eine eingehende Untersuchung ihres Werkes ist Andra McCartney’s Sounding Places: Situated Conversations through the Soundscape Work of Hildegard Westerkamp York University, Toronto, 1999, und im internet unter http://www.sfu.ca/~westerka/compositions.html erhältlich.
Florence Debeugny
Aufgewachsen in Frankreich und eingetaucht in wiedergewonnene Architektur vergangener Epochen, konzentriert Florence Debeugny ihre künstlerische Praxis auf Architekturphotographie, die die Veränderungen untersucht, die in industriellen Umgebungen in British Columbia (BC, Canada) stattfinden, wo sie stillgelegte oder teilweise heruntergekommene Strukturen dokumentiert, bevor sie verschwinden. Seit 13 Jahren beinhaltet ihre photodokumentarische Arbeit Bergbau-, Fischerei- und Forstwirtschaft-Industrien und befasst sich mit den Fragen, wie schnell Bauten, die aus ökonomischen Gründen geschlossen wurden, zusammen mit den Kulturgrundlagen, die sie umfassen, verschwinden.
In Videoinstallationen wie 'Almost Gone', 'Maillardville 100 years and beyond' und 'Giants Leap' hat sie ihre Photographien mit Ambient-Sounds, Video und Interviews kombiniert, um ausdrücklich die Schichten menschlicher Erfahrung zu vermitteln, die von industriellen und städtischen Veränderungen betroffen sind. Ihre Arbeit wirft Fragen auf zu Fortschritt, Architekturerhaltung, Wohnbau und Kultur.
Sie hat auch einen photographischen Abstraktionsstil entwickelt, wie aus der Serie 'Deterioration, Through, Precaution' und 'Night Language' ersichtlich ist. In industriellen Geländen findet sie Formen, Linien und Schichten innerhalb des grösseren visuellen Kontexts, den sie genau studiert, indem sie abstrahierte Bilder produziert und manchmal optischen Effekt einbezieht. Anstatt die Bilder digital zu bearbeiten konzentriert sich ihr künstlerischer Prozess auf die sorgfältige Komposition während des Photographierens, um ihren Beobachtungssinn zu vertiefen.